In diesem Beitrag erfährst du, welche wichtigen Schritte du durchführen solltest, bevor du einen Prozess digitalisierst. Ob die Digitalisierung gelingen wird, hängt dabei gar nicht so stark von den digitalen Werkzeugen ab, wie man oft glaubt. Denn es gilt: Wer einen sch*** Prozess digitalisiert, hat einen digitalen sch*** Prozess.
Der Vergleich mit einem Umzug
Stell dir vor, du ziehst in eine neue Wohnung. Sorgfältig wird in der bisherigen Wohnung alles eingepackt, unzählige Kisten die Treppen heruntergeschleppt, in den Transporter verladen, unzählige Kilometer transportiert und wieder zu viele Treppen hochgeschleppt. Um dann teilweise (!) wieder ausgepackt und weggeräumt zu werden.
Was passiert eigentlich mit all den Kisten, die jahrelang unausgeräumt stehen bleiben? Die bessere Frage lautet wohl: Was hätte mit deren Inhalt vor dem Umzug passieren sollen?
Hätten wir uns mit diesen Habseligkeiten vorher auseinandergesetzt, hätte vorher schon einiges aussortiert werden können. Selbst wenn wir es nur verschenkt hätten, wären wir durch weniger Krempel beim Umzug belohnt worden. Uns hätte direkt eine ordentlichere neue Wohnung, frei vom alten Ballast begrüßt.
Unnötige Prozessschritte in manuellen Prozessen
Du solltest mit zweierlei Brillen auf alle bisherigen Schritte schauen. Welche davon gibt es nur, weil:
- jemand einen Konflikt nicht ausgehalten hat?
- jemand seine Macht sichern will?
„Letztes Jahr hat Sabine doch tatsächlich dieses sündhaft teure Hotel für ihre Dienstreise gebucht“. Wenn du als Führungskraft diesen Kaffeeküchenklatsch mitbekommst, bist du verleitet sofort zu handeln. Der erste Impuls der meisten Führungskräfte: es muss eine neue Obergrenze für Hotelkosten in die Dienstreisevorschrift geschrieben werden. Hat sich Peter letztes Jahr einen zu teuren Bürostuhl gekauft? Häufiger Impuls: Ab sofort muss die Abteilungsleitung alles über x Euro freigeben.
Wenn du Konflikte nicht in der Tiefe ausdiskutieren willst, und auch sonstiges „Fehlverhalten“ versuchst im Keim zu ersticken, dann kommt es zwangsläufig zu Regeln. Oberflächlich betrachtet sorgt die neue Regel für Ruhe. Es werden keine teuren Hotels mehr gebucht und die manuelle Begutachtung jeder Anschaffung spart Geld. Doch warum haben Sabine und Peter über die Stränge geschlagen?
Sind es einfach niederträchtige, schlechte Menschen oder könnte es eine andere Erklärung geben? Hat Sabine in Summe vielleicht Taxi-Kosten gespart, weil dieses Hotel am nächsten am Dienstgeschäft war? Hat Peter vielleicht starke Rückenprobleme und fällt mit diesem Stuhl seltener schmerzbedingt aus?
Diese Fragen bleiben, wenn die Regel vorschnell zuschlägt, unbeantwortet. Und auch in allen künftigen Fällen hat die Regel soeben erfolgreich ein Stück Agilität getötet.
Ballast in Zement gießen
Ähnlich wie beim Umzug trennst du dich von diesem Ballast am besten vor dem Digitalisierungsschritt. Werden Obergrenzen für Hotelkosten hart verdrahtet im Code des Dienstreiseportals hinterlegt, so ändert das so schnell kein Programmierer. Vor allem nicht ohne Genehmigung. Der Ruf nach der Genehmigung wird in einer Mischung aus stille Post und „Hallo Echo“ in den weiteren Fluren der Organisation verstummen.
Der Genehmigungsschritt für die Beschaffung landet als E-Mail im Postfach der Führungskraft und wartet dort geduldig. Hat es mehrfach ewig lange gedauert, weil die Führungskraft in E-Mails ertrinkt (da hätte ich übrigens eine Lösung) oder im Urlaub ist, wird bei der Lösungssuche typischerweise in Form einer Vertretungsregelung gedacht. Auf die Idee, den Genehmigungsschritt zu hinterfragen, kommt selten jemand.
Hier wurde der Ballast des alten Prozesses regelrecht in Beton gegossen. Bitte habe hier den Mut, diese Prozessschritte vor der Digitalisierung zu hinterfragen und alte Zöpfe abzuschneiden. Die Belohnung für diesen Mut fällt vielfältig auf:
- Der entstehende Prozess ist schlanker
- Führungskräfte halten sich nicht mit Genehmigungen auf, nur weil ein Bürostuhl 10 € über der magischen (willkürlichen) Grenze liegt
- Das Team bekommt Entscheidungsgewalt zurück und wird verantwortungsvoll damit umgehen
- Konflikte kommen wieder an die Oberfläche und können endlich ausgetragen werden, statt weiter zu schwelen
Keine Angst vor Machtverlust und Konflikten
Vermutlich hast du bei mindestens einem der drei Vorteile innerlich gezuckt.
Führungskräfte geben Kontrolle ab? Dann werden sie doch überflüssig. Meine Meinung: eine Führungskraft, die nur über solche Banalitäten entscheidet heute schon überflüssig.
Mehr Verantwortung im Team – das geht doch mit deinen Leuten nicht. Viel zu oft eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Konflikte sollen nicht schnell gelöst werden? Nein, sollen sie nicht! Wann wurde zum letzten Mal ein Streit wirklich langfristig gelöst, weil jemand fest mit dem Fuß aufgestampft hat? Konflikte löst man mit Ursachensuche. Warum handelt eine Person, so wie sie handelt und warum fühlt sich eine andere Person davon gereizt.
Wolltest du das überhaupt hören?
Du hast auf einen Beitrag über Digitalisierung geklickt, und ich habe dir nichts über Digitalisierung erzählt. Es ging weder um Datenschutz, noch Clouds und Verfügbarkeit und schon gar nicht um Cybersecurity. Auch das Umzugsbeispiel, welches noch einen Bezug zu Management haben kann, hat uns nur als Warm-Up gediehnt.
Wir lesen doch alle immer wieder, dass die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht damit enden, dass ein Papierformular jetzt als PDF zur Verfügung steht. Stimmt.
Gleichzeitig lesen wir viel zu selten, dass die Probleme mit unserer trägen Verwaltung im Kern nicht daran liegen, dass sie auf Papier leben. Ich hoffe, zu dieser Erkenntnis hiermit einen Beitrag geleistet zu haben.
In diesem Buch erfährst du unter anderem, wieso sich die Bürokommunikation nicht einfach ins Digitale verlagern lässt,
bzw. wieso Zoom-Fatigue nicht nur mit Zoom zu tun hat.